Inhalte
Le Grand Pays: Einige Minuten später gibt der Weg zum ersten Mal den Ausblick auf die Landschaft frei. Ich habe den Eindruck in einer grünen Wüste zu sein; egal in welche Richtung ich schaue; alle Felswände sind überwuchert von Pflanzen und Bäumen in verschiedenen Nuancen von Grün. Nun geht es schlagartig in steilen zickzack Kehren auf einem kleinen Weg von Lavagestein bergauf; die Vegetation wird karger und gibt immer weniger Schutz vor der Sonne– auf 1760 m geht der kleine Weg oberhalb eines Abhangs auf einem breiten Lavastrom über. Schweren Atems komme ich oben an und lege eine kurze Rast ein; der Blick zurück ist überwältigend. Vor mir breitet sich die grüne Wüste aus, die ich durchquert habe. Weit entfernt erkenne ich mikroskopisch klein die letzten Häuser von Grand Galet. Hinter den Wolkenstreifen, der die Küste verdeckt, erahne ich den großen Ozean in seinem leuchtendem Blau. Rechts von mir thront majestätisch die ‚Morne de Langevin‘; aus dem kreolischen übersetzt heißt das so viel wie ‚der Hügel von Langevin‘; wobei ich die Bezeichnung Hügel für eine Anhöhe von 2.380 Metern durchaus untertrieben finde. Hier liegen die Quellen des Flusses Rivière de Langevin, an dem entlang ich am Morgen mit dem Bus gefahren bin.
3. Etappe: Von Le Grand Pays nach Plaine des Sables
Hinter mir liegt die grüne Wüste; vor mir liegt die zu durchquerende Wüste der rot-braunen Schlacke der Plaine des Sables. Diese kahle und karge Landschaft ist vor über 1000 Jahren bei einem Ausbruch des naheliegenden, heute erloschenen Nebenkrater Piton Chisny des Vulkans Piton de la Fournaise entstanden. Der Weg auf die Anhöhe der Ebene Plaine des Sables ist nun am frühen Nachmittag gänzlich der Sonne ausgesetzt. Ich schwitze und teile mir die letzten Wasserreserven ein; leider erwartet mich an Ende meiner Wanderung keine frische Apfelschorle, sondern nur die Straße zum Vulkan, an der mich hoffentlich per Anhalter jemand wieder mit zur Küste zurücknimmt.
Auf der Anhöhe von etwa 2.250 m angekommen, nun über den Wolken, sind es nun noch quälende zweieinhalb Kilometer bis zur Vulkanstraße; schnurstracks geradeaus geht es durch die bizarre Mondlandschaft; das Ziel nicht näherkommen-wollend. Ich fühle mich winzig, wie ich auf dieser großen, weiten Ebene laufe, weit und breit kein Mensch in Sicht; von den Autos sehe ich nur den Staub den sie auf der Plaine des Sables aufwirbeln – so macht der Name auch Sinn.
Von Plaine des Sables zurück zur Küste
Endlich angekommen an der Straße trinke ich die letzten Schlucke meines heißen Wassers – erfrischend ist anders. Vom Vulkan Piton de la Fournaise kommen nur noch wenige Autos von ihrem Ausflug zurück; er ist meistens um diese Zeit schon wolkenverhangen. Die letzte Aktivität des Vulkans wurde am 21. Juni 2014 verzeichnet; der letzte große Ausbruch des Vulkans war im April 2007. Dabei hat sich nicht nur die Insel durch die ausströmende Lava um einige Quadratmeter vergrößert, sondern auch der Hauptkrater beim Einbruch um 300 m abgesenkt.
Ich hoffe nicht allzu lange warten zu müssen, bis mich jemand mitnimmt. Ich beginne mir die Schuhe auszuziehen, um meinen glühenden Füssen frische Luft zu gönnen. Kaum dabei nähert sich auch schon ein dunkler Audi. Ich halte den Daumen raus – bei den wenigen vorbeikommenden Autos will ich keine Chance ungenutzt lassen – und bin selbst verwundert, dass der Fahrer direkt anhält. Mit einen Wanderschuh rechts, und schon einem Flipflop links, steige ich ins Auto ein. Links klebt ein Aufkleber einer großen, internationalen Autoverleihfirma. Der Wagen sieht nicht nur neu aus; es riecht auch so. Im Inneren des Wagens herrschen kühle 20°C, wie das Display zwischen Fahrer und Beifahrer aussagt – für mich gefühlte winterliche Temperaturen. In Windeseile breitet sich ein unangenehmer Geruch im Auto aus – mein bereits ausgezogener Wanderschuh und auch mein nackter Fuß zeugen von den Anstrengungen des Tages. Etwas beschämt über meine Schandtat suche ich das Gespräch zu dem freundlichen Paar. Sie kommen aus Belgien, sind am Vormittag in Saint Denis gelandet und bleiben für vier Tage auf der Insel. Sie haben den Vulkan besucht und sind nun auf dem Weg zum Palm Hôtel & Spa – eines der teuersten Hotels der Insel. Ich bin erstaunt und erfreut zugleich, dass anscheinend so finanziell wohlgestellte Touristen sich nicht scheuen eine verschwitzte, nicht wohl riechende Wanderin in ihrem sauberen Auto mitzunehmen. Sie fragen nach Tipps für ihren Aufenthalt. Nach mehreren Monaten auf der Insel gibt es für mich immer noch so viel, was es noch zu entdecken gibt; was soll man da empfehlen für vier kurze Tage? Nach ein paar Hinweisen zu den ‚Sights‘ im Süden der Insel, fängt die Belgierin schon an über ihren nächsten Stopp zu reden – 3 Tage Mauritius, bevor es wieder ins graue Belgien geht. Da stimmt was nicht, La Réunion ‚à l‘arrache‘; da kann man vielleicht den Vulkan Piton de la Fournaise aus der Ferne und den Wasserfall von Grand Galet anschauen, aber La Réunion erleben; nein, das geht nicht in vier Tagen!
Nach dem Wandern zum Sonnenuntergang an den Strand
Die netten Belgier setzten mich, nachdem ich ihnen den Weg zu ihrer Edelherberge beschrieben habe, in Terre Sainte ab. Das kleine Quartier unweit von Saint Pierre, der größten Stadt im Süden der Insel, hat noch einiges von seiner Ursprünglichkeit bewahrt. Hier laufe ich die kleinen Straßen und Gassen mit den vielen verwinkelten kleinen Fischerhäuschen bergab Richtung Strand. Es ist sechs Uhr. Ich genieß die letzten Sonnenstrahlen bei einem erfrischenden Bad am kleinen Strand ‚Plage des pêcheurs‘. Früh am Morgen kann man hier die Fischer sehen, wie sie an den Felsen nahe des Wassers ‚Zourite‘, also Tintenfische fangen, um damit das traditionelle Cari Zourite zu kochen. Das inseltypische Cari basiert auf einer Mischung aus Tomaten, Charlotten, Ingwer, Kurkuma, Thymian und kleinen grünen Chilischoten; beigefügt wird dann Fisch oder Fleisch. Das Ganze wird mit Reis und Bohnen serviert. Keine leichte Kost bei den klimatischen Verhältnissen. Ich genieß lieber die Vielfalt der um diese Jahreszeit reifen Früchte; die kleinen, süßen Litschis, die verschiedenen, saftigen Mangos und die berühmte Ananas Victoria, die man nur selten in den Supermärkten im weit entfernten Europa findet. Im leuchtenden Rot der untergehenden Sonne beobachte ich zwei Fischer, die auf dem Deich des dahinter liegenden Hafens von Saint Pierre ihre Angeln ausgeworfen haben. Die Umrisse ihrer Bewegungen sind gestochen scharf und gleichen einem kunstvollen Schattenspiel.
In der nahegelegenen Strandbar baut eine Musikgruppe ihre Bühne für den Abend auf. Bei dem Soundcheck erklingen kreolische Töne des Maloya. Lange von der Regierung verboten, war der Molaya einst Ausdruck des Leids der Sklaven auf der Insel. Heute hat der Musikstil Kultstatus auf der Insel und zählt seit 2009 von der UNESCO anerkannt zum immateriellen Kulturgut der Insel. Nicht nur die Natur der Insel ist mit ihrer Vielfalt beeindruckend. Auch die Diversität der Kultur auf der Insel ist eine Reise wert! La Réunion heißt übersetzt ‚die Zusammenkunft‘. Und die Insel ist wahrlich eine große Zusammenkunft von natürlicher und kultureller Vielfalt auf kleinstem Raum. Nach einer erfrischenden Dusche und einem ‚Rhum arrangé‘, einem mit Frucht oder Gewürzen eingelegten Rum, bin ich auch wieder bereit für die kulturellen Abendteuer die die Insel an diesem Samstagabend zu bieten hat.
Und auch das ist La Réunion…
Auf einer Fläche kaum größer als das Saarland kann man verschiedenste Naturräume entdecken. Dazu eine kulturelle Vermischung von Afrika, Europa und Asien, von der die kontinentaleuropäische Integrationspolitik nur träumen kann. Dennoch ist La Réunion nicht nur ein Paradies. Auf politischer Ebene ruhen hier einige Konfliktpunkte. Mit ihrer Lage im südindischen Ozean ist La Réunion als französischen Übersee-Département und damit Teil der Europäischen Union eine wahre Insel des Wohlstands. Die Nachbarinseln Madagaskar, Mauritius und die eigenständigen Komoren liegen in ihrer infrastrukturellen Entwicklung weit hinterher, was natürlich die Migration anzieht. Auch dieser Aspekt wirft die stetige Identitätsfrage der Insulaner auf: Kreolen, Franzosen oder Europäer? Wirtschaftlich ist La Réunion von den Sozialleistungen vom Mutterland abhängig – die Arbeitslosigkeit beträgt nahezu 30%. Die Europäische Union finanziert über die Strukturfonds große Teile der baulichen Infrastrukturen – so wurde auch die 2009 eröffnete Autobahn ‚Route des Tamarins‘ mit nicht unerheblichen Teilen durch finanziellen Zuschüsse aus Brüssel realisiert. Aber obwohl die Insel Teil der Europäischen Union ist, gelten hier nicht die Auflagen wie am Binnenmarkt: Zoll- und Handelsabkommen, Agrar- und Fischereipolitik und Steuerauflagen sind geprägt von Sonderregelungen. Einfuhrzölle auf Rum schützen die heimische Produktion – schließlich ist der Anbau von Zuckerrohr auch prägend für die Kulturlandschaft der Insel.
Text und Bilder: Rike Stotten
Wenn Sie auch Lust bekommen haben, die grüne Insel im Indischen Ozean selbst einmal zu erkunden, finden Sie im Reisehandbuch Réunion (auch als ebook erhältlich) alles Wissenswerte über La Réunion. Darüber hinaus gibt die Autorin Rike Stotten viele Tipps für Outdoor-Aktivitäten und 18 ausführlich beschriebene Wanderungen.