In Ruanda wurde lange Zeit eine außergewöhnliche Form von Gerichtsprozessen praktiziert: die Gacaca-Gerichte. Oberste Priorität dieser Verfahren war der Frieden in der Gemeinschaft; so wurden Verbrecher häufig nicht ins Gefängnis gesteckt, sondern zu Hilfsarbeiten verpflichtet, um sie auf diese Weise zu resozialisieren und mit der Dorfgemeinschaft zu versöhnen.
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Liebe geht durch den Magen – Versöhnung auch?
Die traditionelle Gerichtsbarkeit der Dorfgemeinschaften ermöglichte, unter der Leitung der Dorfältesten unkompliziert und zeitnah Verstöße gegen die Regeln des lokalen Zusammenlebens zu ahnden und Auseinandersetzungen zwischen Familien zu schlichten. Meist musste der Delinquent zur Wiedergutmachung gemeinnützige Arbeit leisten oder dem Geschädigten gewisse Mengen an Sorghombier oder Bananenwein zukommen lassen. Traditionell endeten die Verfahren oft mit einem Versöhnungsessen. Schon daran zeigt sich, dass die Wahrung des dörflichen Friedens das Primärziel der Gacaca-Gerichte war – der Strafaspekt trat demgegenüber in den Hintergrund. Diese Praxis bestand bis ins frühe 20. Jahrhundert, doch 1924 beschnitten die belgischen Kolonialbeamten die Zuständigkeiten dieser Gerichte. Auch nach der Unabhängigkeit 1962 beschränkte sich die Autorität der Gacacas auf kleine, kommunale Streitigkeiten, doch immerhin waren sie Bestandteil des offiziellen Rechtssystems.
Gacaca-Gerichte helfen bei der Aufklärung des Völkermordes
Traditionelle Werte und Rechtsstaatlichkeit
Mitte des Jahres 2002 nahmen in zwölf Distrikten die ersten Gerichte ihre Arbeit auf. Im Gegensatz zu den traditionellen Gacacas waren diese nun rechtlich eingebettet, folgten formalen Abläufen und räumten den Angeklagten mehr Rechte ein. Die Beteiligung der gesamten Gemeinde sowie das Ziel der Versöhnung wurden jedoch als wichtige Elemente beibehalten. Die Schwere der Delikte während des Genozids wurde in eine von vier Kategorien eingeteilt. Die Gacacas waren für Fälle der Kategorien 2 bis 4 zuständig, während Verdächtige der Kategorie 1 vor ein ordentliches ruandisches Gericht bzw. das ICTR gestellt wurden.
Das Volk wählt die „Richter“
Jedem Gacaca-Gericht gehörten neun Inyangamugayo sowie fünf Gesandte an. Die Inyangamugayo wurden von der Generalversammlung des Dorfes gewählt. Aktiv wahlberechtigt waren alle Bewohner über 17 Jahren, zur Wahl stellen durfte sich Die Kandidaten mussten über 21 Jahre alt sein, über eien guten Leumund verfügen und nicht mit über sechs Monaten Gefängnis vorbestraft sein; selbstverständlich durften sie auch nicht in den Völkermord verwickelt gewesen sein. Die Strafen fielen dabei höchst unterschiedlich aus: von gemeinnütziger Arbeit bis hin zu jahrzehntelangen Haftstrafen! Ein übergeordnetes Appellationsgericht kümmerte sich um Einsprüche gegen verkündete Urteile. Bis Mitte 2012 waren die Gacaca-Gerichte so an der juristischen Aufarbeitung des Genozids beteiligt.
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